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Unschuld

Ein modernes Mädchenbuch

9781465641670
311 pages
Library of Alexandria
Overview
Bertha kam vom Pensionat heim. Ihre Eltern wohnten im ersten Stock. Jedesmal, wenn sie die Stiege nach fünf Uhr hinaufging, kam vom zweiten Max, der Gymnasiast, herunter. Er hatte Locken wie ein Dichter und sah sehr männlich aus. Zuerst waren sie beide rot geworden. Er hatte sie gegrüßt. Der Schulbub, dachte sie, ihn böse anblickend. Aber am anderen Tage hielt er ein Briefchen, welches plötzlich in ihre Hände glitt. Das gefiel ihr. Es war etwas so Heimliches, Verbotenes dabei. Ein Liebesbrief! Gott, das mußte schön sein! Vielleicht gar ein Gedicht: Brust — Lust, Herz — Schmerz! Etwas regte sich in ihr, das Ding da wegzuschleudern. — Sie schwebte fast die Treppe empor. Es war, als hätte sie neue, kräftigere Muskeln bekommen. Oben klingelte sie. Das Stubenmädchen öffnete. Die Mama kam zufällig auch heraus. „Was hast du denn, du siehst ganz sonderbar aus?“ „Ich? o gar nichts,“ sagte sie in halb keckem, halb wegwerfenden Ton. In sich meinte sie, nun sei sie etwas, weil sie einen Brief von einem „Herrn“ bekam. Die Mutter sah ihr in die Augen, strich ihr über die Scheiteln: „Hast du mir nichts zu sagen, mein Kind?“ Plötzlich wurde der Kleinen weich zu Mute: die Mami belügen! So etwas! Aber dann kam der aufrührerische Kindertrotz in sie: „warum sind sie immer hinterher, mich zu quälen, mich auszuspionieren, als ob ich etwas Schlechtes thun wollte. Justament! da habt ihr’s, nun thue ich’s erst recht.“ „Gut, mein Mädchen: du weißt noch nicht, daß selbst der Dieb Einwände und Entschuldigungen für sich findet.“ Der Mama entgegnete sie: „ich weiß nicht, was du hast, es ist nichts.“ Dann ging sie nach einem gewissen Ort, dem einzigen, wo sie allein gelassen wurde, und las: „Glühende Liebe — Triebe, Sonne — Wonne.“ Es war wunderbar schön! Sie zitterte dabei vor freudiger Aufregung.