Die Entwicklungsgeschichte der Stile in der bildenden Kunst: Vom Altertum bis zur Gotik und Von der Renaissance bis zur Gegenwart (Complete)
9781465673510
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Jedes Kunstwerk gibt dem Betrachter zwei Genußmöglichkeiten, je nachdem man es an sich, absolut, oder nur als Glied im künstlerischen Schaffen seiner Zeit empfindet. Bachs hohe Messe in H-Moll erschüttert auch im Konzertsaal — aber lebendig ist sie erst als Glied der Andacht in einer Kirche ihrer Barockzeit, in der das prachtvolle Pathos ihrer großen Fugen eins wird mit der pathetischen Bewegung der Pfeilerreihen zum Altar und wieder zurück, der Jubel ihrer Bekenntnisse und Huldigungen mit dem Licht, das durch ihre hohe Kuppel strömt, ihre Begleitungen mit den Stuckranken, die jedes Glied des Baues an jedes andere heften. Ein Schnitzwerk von Tilman Riemenschneider ist immer schön. Aber es ist etwas anderes, es im Museum zu sehen, als bloßen Schaugegenstand, oder in seiner zierlichen Rahmung, die sich in die Sterngewölbe spätgotischer Kirchen auflösen soll. Wenn wir daraus die Konsequenz ziehen, so ergibt sich als Erstes, daß die Geschichte der bildenden Künste kein Recht hat, den Stil unter Vernachlässigung aller anderen Kunstformen nur als Baustil zu verstehen. Der Stil ist vielmehr in all seinen Charakterzügen nur aus der Summe alles von ihm Geschaffenen zu begreifen. Alle Ausdrucksformen des Zeitgeschmacks, Baukunst und Kunstgewerbe, Malerei und Plastik, Mode und Theater, sind zugleich Stilglieder. Und nur, indem man das ihnen Gemeinsame sucht, zeigt sich jene Einheit, die man eigentlich Stil nennt. Aber selbst dann erscheint sie nicht gleichbleibend, sondern als Bewegung, als gemeinsames Streben nach demselben Schönheitsziel. Selbst diese Einheit besteht nur für gleichzeitig, aber nicht für nacheinander geschaffene Werke. Denn das ist das Zweite, daß in der Kunst kein Stil konstant bleibt, daß langsam, aber mit Notwendigkeit, jeder sich fortbildet, um ganz allmählich seine Kraft zu verlieren und einer neuen Schönheit, einem neuen Stil Platz zu machen. Und diese Entwicklung ist die Geschichte der Kunst. Man hat in der Frühzeit der geologischen Wissenschaft geglaubt, daß die ungeheure Geschichte der Erde, das Verdrängen jeder Schicht durch eine andere, unmöglich ohne gewaltsame Prozesse hätte vor sich gehen können. Heute wissen wir, daß diese Entwicklungen sich allmählich und mit Notwendigkeit vollzogen. Aber es ist Zeit, daß dieser Grundsatz der Entwicklungsgeschichte nicht nur der Naturwissenschaft, sondern auch den anderen Wissensgebieten die Richtung des Gedankens vorzeichnet. Man weiß nichts von der Geschichte der Kunst, wenn man nichts als die Merkmale der Stile kennt, die sich nur auf ganz wenigen Kunstwerken gleichen, da sie mit dem Geschmack allmählich sich verändern. Wir dürfen nicht nur diese Merkmale der vollendeten Stile suchen, denn es liegt kein Grund vor, die feineren Übergänge zwischen den Epochen, in denen sich die Entwicklungsgeschichte der Kunst werdend ausspricht, geringer einzuschätzen. Es ist falsch, von der Frührenaissance zu sprechen, als wäre die Kunst in Italien von 1420 bis 1500 von einheitlichem Geschmack gewesen, während doch die allmähliche Abkehr von gotischen Prinzipien und der Übergang zur Hochrenaissance der eigentliche Inhalt der Epoche war, an dem Kräfte verschiedener Richtung mitwirkten. Es gibt auch keinen Begriff „die Antike“; zwischen den Anfängen der klassischen griechischen Zeit und ihren Werken in der Zeit der Diadochen liegt ein Weg wie vom Beginne christlicher Kunst bis zur reichsten Gotik. Wie die schaffenden Kräfte des Volkslebens nicht still stehen, so ist auch die Kunst nicht einen Augenblick ohne Fortentwicklung. Diese Fortentwicklung ist das innere Leben des Stils, ist das Wollen und Suchen aller Kräfte der Zeit.