Lehrbuch der Botanik für Hochschulen
9781465648969
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Solche und viele andere Tatsachen weisen darauf hin, daß die Pflanzen untereinander und mit den Tieren blutsverwandt sind. Diese in der Abstammungs- oder Deszendenzlehre zum Ausdruck kommende Auffassung kann man als eine grundlegende Theorie der Biologie bezeichnen. Die Vorstellung, daß die Lebewesen mit zusammengesetzterem Bau, mit höherer Organisation, aus einfacher gestalteten sich entwickelt haben, reicht bis auf die griechischen Philosophen zurück; sie wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem von dem französischen Zoologen LAMARCK vertreten. Eine wissenschaftliche Begründung erhielt sie aber erst später. Namentlich war es CHARLES DARWIN, der durch eine Fülle von Beweismaterial das zuvor herrschende Dogma von der Unveränderlichkeit der Arten endgültig erschütterte und dadurch die großen Probleme der organischen Entwicklung in Fluß brachte. Die Paläontologie lehrt uns aus Versteinerungen und Abdrücken von Tieren und Pflanzen, daß in früheren Erdperioden andere Lebewesen als in der Gegenwart, aber zum Teil den jetzigen ähnliche den Erdball bewohnten. Diese Beobachtung legt schon den Schluß nahe, daß die jetzt lebenden Formen durch Umbildungen ausgestorbener entstanden sind. Er führt zu der Folgerung, daß solche sehr ähnliche Organismen, die wir als Arten in einer Gattung vereinigen, miteinander blutsverwandt sind, und daß man durch Vereinigung von Arten zu Gattungen, von Gattungen zu Familien und von Familien zu noch höheren Einheiten in einem „natürlichen“ Systeme Verwandtschaftsgrade zum Ausdruck bringt. Die Entwicklung, d. h. die Umwandlungen, die ein Lebewesen im Laufe von Generationen während der Jahrtausende durchgemacht hat, nennt man mit ERNST HAECKEL seine Stammesgeschichte oder Phylogenie, die Entwicklung, die es während seines Einzeldaseins durchmacht, seine Ontogenie. Die Deszendenzlehre nimmt nun an, daß die höher organisierten Pflanzen und Tiere phylogenetisch in letzter Linie aus gemeinsamen Wurzeln entstanden sind, nämlich aus sehr einfachen Formen, die vielleicht den einfachsten, heute noch lebenden ähnlich waren, und zwar so, daß von solchen die phylogenetische Entwicklung einerseits in der Richtung auf die höheren Tiere, andererseits in der Richtung auf die ausgeprägten Pflanzen fortschritt. Nach dieser Annahme, die ihre Stütze außer in den vielen, allen Tieren und Pflanzen gemeinsamen Eigenschaften, eben in der Tatsache findet, daß eine scharfe Grenze zwischen Tier- und Pflanzenreich in den Gruppen der niedersten Formen sich nicht ziehen läßt, bilden alle lebenden Wesen im Grunde genommen ein einziges Naturreich, das Reich der Organismen. Ausgeprägt pflanzliche Merkmale wurden im Laufe der phylogenetischen Entwicklung: die Ausbildung der wichtigsten Körperflächen, die der Nahrungsaufnahme dienen, nach außen (während dafür beim Tiere eine von einem Munde ausgehende innere Körperfläche durch Einstülpung entstand), ferner die Zellulosezellmembranen, mit denen die Zellen sich umkleideten, endlich die grünen Farbkörper, die sich im Inneren der Zellen ausbildeten. Der grüne Farbstoff befähigte die Pflanze, aus der Kohlensäure der Luft, aus Wasser und aus gewissen Bodensalzen, also aus anorganischen Verbindungen, ihre organische Leibessubstanz aufzubauen und dadurch selbständig und unabhängig von allen anderen Organismen zu leben; das Tier dagegen blieb in seiner Ernährung, unmittelbar oder mittelbar, auf die Pflanze angewiesen, also in seinem Bestehen von ihr abhängig. Fast alle Unterschiede, die zwischen ausgeprägten Pflanzen und Tieren bestehen, lassen sich aus diesen Besonderheiten der Ernährung ableiten. Als bezeichnend für die Pflanzen kann ferner ihre ontogenetische Entwicklung gelten, dieniemals abgeschlossen wird, vielmehr an den Vegetationspunkten unbegrenzt fortdauert, so daß die Pflanze im Prinzip immer weiter wächst.