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Peter Camenzind

9781465559913
pages
Library of Alexandria
Overview
Im Anfang war der Mythus. Wie der große Gott in den Seelen der Inder, Griechen und Germanen dichtete und nach Ausdruck rang, so dichtet er in jedes Kindes Seele täglich wieder. Wie der See und die Berge und die Bäche meiner Heimat hießen, wußte ich noch nicht. Aber ich sah die blaugrüne glatte Seebreite, mit kleinen Lichtern durchwirkt, in der Sonne liegen und im dichten Kranz um sie die jähen Berge, und in ihren höchsten Ritzen die blanken Schneescharten und kleinen, winzigen Wasserfälle, und an ihrem Fuß die schrägen, lichten Matten, mit Obstbäumen, Hütten und grauen Alpkühen besetzt. Und da meine arme, kleine Seele so leer und still und wartend lag, schrieben die Geister des Sees und der Berge ihre schönen kühnen Taten auf sie. Die starren Wände und Flühen sprachen trotzig und ehrfürchtig von Zeiten, deren Söhne sie sind und deren Wundmale sie tragen. Sie sprachen von damals, da die Erde barst und sich bog und aus ihrem gequälten Leibe in stöhnender Werdenot Gipfel und Grate hervortrieb. Felsberge drängten sich brüllend und krachend empor, bis sie ziellos vergipfelnd knickten, Zwillingsberge rangen in verzweifelter Not um Raum, bis einer siegte und stieg und den Bruder beiseite warf und zerbrach. Noch immer hingen von jenen Zeiten her da und dort hoch in den Schlüften abgebrochene Gipfel, weggedrängte und gespaltene Felsen, und in jeder Schneeschmelze führte der Wassersturz hausgroße Blöcke nieder, zersplitterte sie wie Glas oder rannte sie mit mächtigem Schlage tief in weiche Matten ein. Sie sagten immer dasselbe, diese Felsberge. Und es war leicht sie zu verstehen, wenn man ihre jähen Wände sah, Schicht um Schicht geknickt, verbogen, geborsten, jede voll von klaffenden Wunden. „Wir haben Schauerliches gelitten,“sagten sie, „und wir leiden noch.“Aber sie sagten es stolz, streng und verbissen, wie alte unverwüstliche Kriegsleute. Jawohl, Kriegsleute. Ich sah sie kämpfen, mit Wasser und Sturm, in den schauerlichen Vorfrühlingsnächten, wenn der erbitterte Föhn um ihre alten Häupter brüllte und wenn die Bachstürze frische, rohe Stücke aus ihren Flanken rissen. Sie standen mit trotzig gestemmten Wurzeln in diesen Nächten, finster, atemlos und verbissen, streckten dem Sturm die zerspaltenen Wetterwände und Hörner entgegen und spannten alle Kraft in trotzig geduckter Sammlung zusammen. Und bei jeder Wunde ließen sie das grausige Rollen der Wut und Angst vernehmen, und durch alle fernsten Rüfenen klang gebrochen und zornig ihr schreckliches Stöhnen wieder