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Der Geist der Gotik

9781465682413
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Nach einem Ausspruch Goethes deutet alles Theoretisieren auf ein Stocken oder Nachlassen der schöpferischen Kräfte. Dieses Wort hat die Kraft eines Lehrsatzes und gilt ebensowohl für die Völker wie für die Individuen. Aus ihm allein könnte man schon schließen, wenn nicht andere Anzeichen noch in Fülle vorhanden wären, daß es kritische Jahre für die schöpferischen Kräfte der Kunst gewesen sein müssen, als jene groß gedachten Theorien aufkamen, die nun schon einhundertundfünfzig Jahre lang das geistige Leben Europas beherrschen und deren Schöpfer in Deutschland so große Geister wie Winckelmann, Lessing und Goethe gewesen sind. Die Theorien sind in dem Augenblick aufgetreten, als in den Künsten mit den Formen des Barock und Rokoko die ursprüngliche Gestaltungskraft abklang und als mit dem Klassizismus eine kritisch abgeleitete Kunst, eine Bildungskunst, heraufkam. Auch jetzt war die Theorie, wie edel die Gedanken und Forderungen, wie genial die Vertreter immer sein mochten, ein Notprodukt; ihre Verkünder standen im Dienste einer Kultursehnsucht, sie fühlten sich — selbst schöpferische Geister — unbefriedigt von der Zeit und wollten eine allgemeine Vollkommenheit erzwingen. Wer die Kunsttheorien von Männern wie Lessing oder Goethe kritisiert, muß betonen, daß sie und viele ihrer Genossen als Persönlichkeiten und Begabungen viel mehr waren als Theoretiker — selbst dann noch, wenn man von ihren poetischen Arbeiten absieht. So strittig ihre Kunstlehren sind, so groß stehen ihre kunsttheoretischen Schriften doch da als Denkmale eines klassischen Schreibstils und einer vorbildlichen Methode, Gedankenfolgen mit architektonischer Klarheit zu entwickeln. Diese Männer werden nicht kleiner, weil sie in einem Punkte geirrt haben, denn ihr Irrtum war der einer ganzen Zeit, er war eine notwendige Folge des „Stockens oder Nachlassens der schöpferischen Kräfte“ in den bildenden Künsten. Heute, wo diese Kräfte sich wieder regen, würden so lebendige Geister ganz woanders stehen. Lessing hätte in unsern Tagen wahrscheinlich mit seiner zielsicheren Logik einen Anti-Laokoon geschrieben und würde orthodoxe Anhänger der Laokoonlehre mit eben jenem heiteren Witz verfolgen, der seinerzeit die Herren Lange und Goeze getroffen hat. Und Goethe würde vielleicht den herrlichen Instinkten seiner Jugend glauben, würde mehr seiner eingeborenen gotischen Natur folgen, die den „Faust“ hervorgebracht hat, und nicht einem abgeleiteten klassizistischen Bildungsideal so unbedingt vertrauen.