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Der Zweifüßler und andere Geschichten: Naturgeschichtliche Märchen

9781465671608
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, in den warmen Ländern, wo die Sonne stärker scheint als bei uns, der Regen dichter fällt und alle Pflanzen und Tiere besser gedeihen, weil der Winter ihnen nichts anhaben kann. Der Wald war voller Leben und Lärm. Die Fliegen summten, der Sperling fraß die Fliegen und der Habicht fraß den Sperling. Die Bienen krochen in die Blütenkelche hinein, um Honig zu suchen, der Löwe brüllte und die Vögel sangen; der Bach rieselte und das Gras wuchs. Die Bäume rauschten, während ihre Wurzeln Saft aus der Erde sogen, und die Blumen dufteten und strahlten. Da auf einmal ward es seltsam still. Es war, als hielten alle den Atem an und lauschten und starrten. Die Bäume rauschten nicht mehr. Das Veilchen erwachte aus seinen Träumen und guckte verwundert auf. Der Löwe wandte sein Haupt und blieb stehen, die eine Pfote vom Erdboden erhoben. Der Hirsch hörte auf zu äsen, der Adler ruhte hoch in der Luft auf seinen Schwingen aus, die kleine Maus kam aus ihrem Loch hervor und spitzte die Ohren. Durch den Wald kamen zwei gegangen, die den andern Wesen nicht glichen, und die noch niemand je gesehen hatte. Aufrecht gingen sie. Ihre Stirn war hoch, ihr Auge stark. Sie hielten einander bei der Hand und sahen sich um, als wüßten sie nicht, wo sie wären. „Wer in aller Welt ist das?“ fragte der Löwe. „Das sind Tiere,“ entgegnete der Hirsch. „Sie können gehen, aber sie gehen wunderlich. Warum springen sie nicht auf allen vieren, da sie doch vier Beine haben? Dann kämen sie schneller vorwärts.“ „O,“ wendete die Schlange ein, „ich habe gar keine Beine und komme doch recht gut vom Fleck, sollte ich meinen.“ „Ich glaube nicht, daß es Tiere sind,“ sagte die Nachtigall. „Sie haben ja keine Federn und keine Haare, außer dem bißchen auf dem Kopfe.“ „Schuppen würden wohl auch genügen,“ rief der Hecht, indem er das Maul aus dem Flusse hob. „Manch einer muß sich mit der nackten Haut zurechtfinden,“ bemerkte der Regenwurm still. „Sie haben keinen Schwanz,“ piepste die Maus. „Es sind nie im Leben Tiere gewesen.“ „Auch ich habe keinen Schwanz,“ schrie die Kröte, „und doch wird wohl niemand bestreiten wollen, daß ich ein Tier bin.“ „Seht... seht doch bloß!“ rief da der Löwe. „Jetzt nimmt der eine von ihnen einen Stein in die Vorderpfote... das könnte ich nicht.“ „Aber ich!“ sagte der Orang-Utan. „Das ist doch keine Kunst. Übrigens kann ich eure Neugier befriedigen. Die beiden sind wirklich Tiere. Es ist Mann und Weib. Sie heißen Zweifüßler und sind entfernte Verwandte von mir.“