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Lose Blätter: Neue Novellen

9781465671295
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Weit draußen am äußersten Ende von Williamsbourgk, einem Stadtteile Brooklyns, dort, wo die Straßen- und Häuserreihen bereits durch ausgedehnte Wiesenflächen und üppige Obstplantagen unterbrochen werden, so daß die Bezeichnung »Stadt« daselbst eigentlich nicht mehr zutreffend erscheint, weil die Gegend schon allmählich den Charakter des Ländlichen annimmt – dort steht eine Reihe allerliebster, hüttenartiger Häuschen, deren Gesamtheit, wegen der Zierlichkeit und Gleichheit der Gebäude, im Volksmunde »Dolly Ward (Puppenfestung)« benannt wird. Diese Miniaturvillen, eine aufs Haar genau so wie die andere, mußten unzweifelhaft aus der Hand desselben Baukünstlers hervorgegangen sein, der sie, wohl mehr um einer flüchtigen Laune zu genügen, als um praktische Behausungen zu schaffen, aus der Erde hervorgezaubert haben mochte. Jedes der Häuschen war mit einem niedlichen Vorgärtchen, einer Art Veranda, worauf die Hausthür mündete, und einer grün angestrichenen, hölzernen Treppe versehen, deren Geländer ein fast elegant zu nennendes Schnitzwerk auswies. Das Innere einer solchen Villa bestand aus nur zwei größeren Zimmern im ersten Stock, sogenannten Parlours, drei Mansardenstübchen und der großen hellen Küche im Basement (Souterrain). Merkwürdigerweise stand nur äußerst selten ein Häuschen der Dolly Ward zu vermieten. Die meisten derselben befanden sich schon seit vielen Jahren in festen Händen, was ihr Äußeres auch fast durchweg verriet. Die Gärtchen zeigten sich auf das sorgsamste gepflegt, ihre schmalen Gänge waren mit rotem Kies bestreut, während verschiedenes feines Strauchwerk die etwas primitiven Staketenzäune, welche die Grundstücke von der Verkehrsstraße trennten, verdeckte und dadurch eine Art hübsche lebende Hecke bildete. Rosen und andere duftende Blumen erfreuten im Sommer das Auge der Vorübergehenden, und die stets blitzblank geputzten Fensterscheiben und sauberen Gardinen vollendeten den guten Eindruck, den diese Villen auf den Fremden ausübten. Die Bewohner von Dolly Ward, zum Teil bejahrte Leute, welche sich nun ins Privatleben zurückgezogen hatten, zum Teil Angestellte großer Geschäfte von Brooklyn und New York, welche ihrer Familie wegen die bei weitem billigeren und gesünderen Wohnungen hier draußen dem Geräusch und dem Staube der Großstadt vorgezogen, und einige alte Fräuleins, welche Pensionäre hatten, bildeten eine förmliche feste Clique, so daß auf Dolly Ward jeder neue Ankömmling anfänglich allseitigem Mißtrauen begegnete. Im Anfang des Frühlings 188. war Mr. Holstein, der deutsche Eigentümer des Häuschens Nr. 9, plötzlich gestorben und bald darauf hatte seine Witwe den guten Bekannten von rechts und links Lebewohl gesagt, weil sie ihren Aufenthalt fortan nach Jersey City zu einer verheirateten Tochter zu verlegen gedachte. Mr. O'Reilly, der Nachbar zur Rechten, welchem die alte Dame vor ihrem Scheiden die vorteilhafte Vermietung ihres Besitztums noch recht eindringlich ans Herz gelegt hatte, hing eigenhändig die weiße Tafel zum Fenster hinaus, auf welcher mit großen Lettern zu lesen stand: »to let.« Etwa vier Wochen lang zerbrach man sich in Dolly Ward die Köpfe, wer wohl seinen Weg hier heraus nach dem entlegenen Teile von Williamsbourgk nehmen würde, denn die guten Leute der kleinen Villenkolonie waren äußerst exklusiv und fürchteten begreiflicherweise das Niederlassen des ersten besten Rowdy in ihrer friedlichen Ansiedelung. Da verkündete Mr. O'Reilly eines Morgens einer wißbegierigen Dame, daß des seligen Holsteins Häuschen vermietet worden sei und die neuen Bewohner, in Gestalt von Mutter und Tochter demnächst schon eintreffen würden. Das gab natürlich viel zu reden. Allein auf alle an ihn gerichteten Fragen vermochte Mr. O'Reilly keine weitere Auskunft zu geben, als daß beide Damen respektabel aussähen und gebildet schienen.