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Der Bürger

9781465669124
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ‚Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre ... Ehrenwort?‘ „Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger stand knapp vor fünf. Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten. Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ‚Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe? ... Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden ginge?‘ Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte, daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand neben ihm. Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler eben gelächelt? Über mich? Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen schlugen. Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‘ Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück. ‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‘ Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. Jetzt natürlich kann ich nicht hinein, dachte Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber. Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort Halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte.