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Heiraten: Zwanzig Ehegeschichten

9781465665935
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Als die Mutter starb, war er dreizehn Jahre alt. Es war ihm, als habe er einen Freund verloren, denn während des Jahres, in dem die Mutter krank zu Bett lag, hatte er ihre persönliche Bekanntschaft gemacht, was Eltern und Kinder so selten tun. Er war nämlich früh entwickelt und hatte einen guten Kopf; er las viel mehr als die Schulbücher, denn sein Vater, der Professor der Botanik an der Akademie der Wissenschaften war, besass eine gute Bibliothek. Doch die Mutter hatte keine Erziehung genossen, sondern war in ihrer Ehe die erste Haushälterin des Mannes gewesen und die Pflegerin der vielen Kinder. Als sie jetzt mit neununddreissig Jahren bettlägerig wurde, nachdem sie ihre Kräfte durch die vielen Geburten und die vielen Nachtwachen (sie hatte seit sechzehn Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen) erschöpft hatte, und sich mit dem Haushalt nicht mehr befassen konnte, machte sie die Bekanntschaft ihres zweiten Sohnes; der älteste war Kadett und nur Sonntags zu Hause. Da sie aufgehört hatte, Hausmutter zu sein und nur noch Patientin war, verschwand dieses altmodische Verhältnis der Disziplin, das sich immer zwischen Eltern und Kinder stellt. Der dreizehnjährige Sohn sass fast immer an ihrem Bett, wenn er nicht in der Schule war und nicht an Schulaufgaben arbeitete, und las ihr dann vor. Viel hatte sie zu fragen und viel hatte er zu erklären; dadurch fielen zwischen ihnen diese Gradzeichen, die Alter und Stellung errichten; sollte einer durchaus der Überlegene sein, so war es der Sohn. Aber die Mutter hatte aus ihrem vergangenen Leben viel zu lehren, und so waren sie abwechselnd Lehrer und Schüler. Sie konnten schliesslich über alles sprechen. Und der Sohn, der sich im Anfang der Mannbarkeit befand, erhielt über das Mysterium der Fortpflanzung manche Aufklärung, und zwar mit der Feinfühligkeit der Mutter und der Schamhaftigkeit des andern Geschlechts. Er war noch unschuldig, hatte aber in der Schule viel gehört und gesehen, das ihn anwiderte und empörte. Die Mutter erklärte ihm alles, was erklärt werden konnte; warnte ihn vor dem gefährlichsten Feind der Jugend und nahm ihm ein heiliges Versprechen ab, dass er sich niemals werde verleiten lassen, schlechte Frauen zu besuchen, nicht ein Mal aus Neugier, denn niemand könne sich in solchen Fällen auf sich verlassen. Und sie verwies ihn auf eine mässige Lebensweise und auf den Verkehr mit Gott im Gebet, wenn die Versuchung an ihn herantrete.