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Idisa: eine thüringisch-fränkische Sage für unsere Jugend

9781465665324
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Nahe am Zusammenfluß der beiden Quellbäche der Werra bei Schwarzenbrunn teilt sich die von Eisfeld kommende Straße in einen nördlichen und einen östlichen Arm. Vor vielen hundert Jahren standen dort ein paar armselige Holzhütten, deren Bewohner in der nahen Goldwäscherei ihren Lebensunterhalt verdienten. Es war zwar herzlich wenig, was dabei herauskam, aber die meisten lebten doch mit den Ihren recht glücklich und zufrieden. Die Bewohner in dem letzten Häuschen da oben am »wirren« Wasser, wie sie es damals nannten, waren die ärmsten. Die bittere Not des Lebens hatte an ihrer Wiege gestanden, und es schien, als wollte sie ihnen Begleiterin sein bis an das Ende ihrer Tage. Als nun gar um die liebe Weihnachtszeit beim Vater das alte Leiden sich wieder einstellte, sodaß er gichtbrüchig darniederlag, da war die Not recht groß. Von Verdienst war keine Rede, und wenn die Mutter die Kleinsten zu Bett brachte und im Vaterunser die Worte sprach: »Unser täglich Brot gib uns heute«, rollten ihr die dicken, heißen Tränen über die abgehärmten Wangen. Mutter und Kinder hatten den Hunger kennen gelernt. Elias, oder wie sie ihn im Dorfe nannten Elis, der größte Knabe, verstand wohl die Schmerzen und Sorgen, die am Mutterherzen nagten, und tat, was in seinen schwachen Kräften stand, der Mutter hilfreich beizustehen. Bald gab es einen Botengang nach Steinheid, wo gegen tausend Arbeiter im Goldbergwerk beschäftigt waren, bald sammelte er Holz und Reisig für die Nachbarn, die ihm zum Lohn ein Geldstück oder ein Abendbrot verabreichten, bald trabte er als junger Klammermann durch den tiefen Schnee, um den Hausfrauen im nahen Städtchen geschnitzte Holzwaren feil zu bieten. Alles, was er verdiente, brachte er treulich der Mutter, und so fristeten die Armen notdürftig ihr Leben. Aufs Frühjahr zu ging es mit dem Vater, Gott sei Dank, wieder etwas besser, und wenn ihm auch noch lange nicht möglich war, seiner Arbeit in der Goldwäscherei nachzugehen, so konnte er doch wenigstens einige Stunden während des Tages am Fenster sitzen, oder, wenn die Sonne wärmer schien, vor dem Hause auf der Holzbank. Dann sah er vor sich den dunkeln, schweigsamen Wald, der da lag wie seine nächste Zukunft, und über sich den blauen, lachenden Himmel, – seine Hoffnung. Die beiden Jüngsten waren gern bei ihm und hörten gar andächtig zu, wenn er von seinen Wanderfahrten erzählte, von den fremden Ländern und Leuten, die er gesehen und kennen gelernt hatte. Am meisten freute sich Elis der allmählich wiederkehrenden Gesundheit des Vaters, und jeder konnte es ihm anmerken, der ihm auf seinen Wegen begegnete. Frohsinn und Lebensfrische glänzten ihm wieder aus den blanken, blauen Augen. Spiegelte sich doch in ihnen das reine Kindesherz, das sich über jede Besserung im Befinden des Vaters innigst freute, wenn es auch genau wußte, der nächste Winter bringt das nächste Leid. Doch wozu an den Winter, an Gram und Sorge denken, wenn der Frühling über die Berge zieht, wenn der Wald zum Wandern lockt, wenn die ersten Blüten zum Gruße freundlich winken. Wie Heim- und Herzweh zieht es Elis zu seinen Bergen, zu seinem Wald. An einem schönen Sonntagmorgen sprang er hinaus in den kosenden, tosenden Mai. War’s doch, als sängen die Vögel alle nur für ihn, und der Kuckuck wollte nicht stille werden, ihm seinen Willkomm zuzurufen. Der Knabe hatte von den guten Eltern Erlaubnis bekommen, einmal so recht nach Herzenslust ohne besonderen Auftrag und, wenn möglich, ohne Gram und Sorge hinauszustreifen zu den Schluchten und Bergen des Waldes, der den Saargrund, die Elis längst bekannte Straße nach Steinheid, begrenzte.