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Estella: Novelle

9781465663962
213 pages
Library of Alexandria
Overview
In sanften Wellen breitet sich die Landschaft aus. Die Natur hat hier aufgehört, Grandioses zu ersinnen, vor dem erschrocken der Mensch in Betäubung steht; auch hat sie nicht verschwendet in üppiger Schönheit, dass er ihr berauscht am Busen liegt, – sondern sie hat mit sanfter, friedlicher Hand einfache, ruhevolle Linien in dieses Stück Welt gezeichnet und hängt sich ihm vertraulich an den Arm und schweigt selber, damit sie ihn höre. Überall Äcker und Felder, stille dunkelbraune Erde, die sich leise zu schmücken beginnt, aus deren Schollen sich mühsam und zaghaft junges, weiches Grün schiebt, – dieses lichte, siegende Grün, das die schwere Farbe so bald verdrängt und sich sonnenfroh unter dem weiten Himmel dehnt. Dazwischen Wälder, blaugrün, dunkel, duftumsponnen, die ernstere Töne mit in diese Landschaft bringen und hier und dort ein unvermittelt aus den grünen Tälern aufstrebender Felsen, der als blendender Hügel verwegen in dem königlichen Blau des Himmels steht und hochmütig auf die uralte Geschichte seines Landes hinweisend, in seinem porösen, kalkigen Gestein ein Stück einstigen Lebens umschlossen hält. Träumende Pflanzen und träge Schnecken, die überrascht worden sind in ihrer Beschaulichkeit von der umstürzlerischen Erde und endlich in langen Jahrtausenden erstarrten und versteinerten. – Nichts verbildet ringsum, nichts verbaut. Nur manchmal ein stilles Dorf. So still, dass man glaubt, es wohne seit Menschengedenken niemand hier, – als hätten die Leute vor langem ihr Bündel geschnürt und seien fortgezogen auf den schweigenden Strassen, die vereinzelt wie trübe Bänder um diese Weiler liegen und sie zusammenhalten in dürftigem Verkehr. Ein altmodischer Kirchturm schaut aus jedem Dorfe, gar einfältig mit seinem braunen, moosigen Schindeldach aus vergangenen Zeiten. Man erschrickt fast, wenn aus einem dieser Türme die Glocke plötzlich anhebt zu schlagen – ein Lebenslaut kann auch bestürzen, wo man ihn nicht erwartet hat. Man glaubt, die Glocken müssten längst gerostet sein, da sie für niemand zu läuten brauchen in diesen grauen, verschollenen Häusern, die um jene Kirche stehen.