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Gabrielens Spitzen: Zwei Novellen

Grethe Auer

9781465662705
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Die Frau, von der ich jetzt erzählen will, war eines Schreibers Tochter in einer rheinischen Stadt, in der die Üppigkeit eines kleinen Fürstenhofes, Kunstsinn einer altangesessenen und wohlhabenden Bürgerschaft und natürliche Leichtlebigkeit und Anmut der unteren Bevölkerungsschichten zusammenwirkten, um einen für jene Zeit bedeutenden Grad von Sinnenkultur hervorzubringen. Es haben Männer aus jener Stadt später oft führende Stimmen im Rat der hohen Kunst besessen; oft hat sie Feldherren gestellt in den Kampf eines neuen Kunstgedankens gegen einen alten. Doch das tut nichts zur Sache. Was uns angeht – in jenem ersten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts – ist nur eine gewisse Feinheit und Freiheit der Lebensauffassung, eine gewisse Veredlung alles Trieblebens durch echtes Schönheitsempfinden, die durch alle Schichten der Bevölkerung zu bemerken waren und die es einem armen Schreiberskinde ermöglichten, eine Künstlerin zu sein. Im Hause des Schreibers herrschte bei einer vielköpfigen Familie und einfachster Lebensführung durchaus kein Mangel irgendwelcher Art. Die nüchterne Kost genügte stets für alle, ein bescheidener Leckerbissen krönte die Feiertage, und ein zufälliger Gast fand immer freundliche Bewirtung. Das wenige Hausgerät, obzwar schlicht und derb, war stets in gutem Zustande, wozu die liebevolle Behandlung, die ihm von allen Seiten zuteil ward, nicht wenig beitrug. Da jedes Stück selbst erworben, lang erstrebt und mühsam in langen Raten bezahlt war, so verkörperte es gleichsam ein paar Jahre Lebensgeschichte des Erwerbers, besonders, wenn noch eigene Kunstfertigkeit hinzutrat, die den Wert des Gerätes erhöhte. So war das eigengesponnene Linnen der Betten durch eigengeklöppelte Spitzen bereichert, in denen alle Feierabende und Sonntagnachmittage sämtlicher Frauen der Familie Gestalt gewonnen hatten; die Mußestunden der Männer hatten sich in sinnreiche Bemalung der tannenen Schränke und Truhen, in leichtes Schnitzwerk an Bettleisten und Stuhllehnen umgesetzt; und die Glorie einer frohen Erinnerung, der Wehmutsschleier einer trüben schwebten und webten über jedem Dinge. Noch wurden Wohnungen nicht gewechselt, Hauseinrichtungen nicht fertig gekauft, schnell abgenutzt, erneut und getauscht nach Belieben. Sie entstanden unter den Schicksalen der Menschen, trugen ihren Stempel und überlebten sie als Denkmäler ihres Wesens.