Aus Prager Gassen und Nächten
Egon Erwin Kisch
9781465652713
213 pages
Library of Alexandria
Overview
Westend von Prag. Endstation der Elektrischen, die Smichow und Koschiř durchquert. Über dem Gittertor steht die Aufschrift „Klamovka“ mit so großen Goldbuchstaben, daß jeder erkennen müßte, die hohe, von blütenschweren Bäumen überdachte Mauer umschließe keine öffentlichen Anlagen, keinen Privatpark. Es ist offenbar ein Wirtshausschild, das dringlich zum Eingange lädt. Aber das Tor ist versperrt, und keine Klingel ist vorhanden, die einen öffnenden Pförtner herbeizurufen vermöchte. Und selbst wenn man in der abzweigenden Weißbergstraße das offenstehende Seitentürchen entdecken, durch dieses eintreten und die Stiegen zum Garten hinaufschreiten würde, so müßte man umkehren, denn ein Zettel verwehrt strenge dem Fremden den Eintritt. Der abweisende Inhalt des kleinen Zettels auf dem Seitentor kontrastiert mit der einladenden Aufschrift der großen Tafel auf dem Haupttor. Sodaß man doch in Zweifel gerät, ob hier ein Wirtshausgarten oder ein Herrschaftspark sei. Beides oder keines von beiden. Früher haben Grafen und Gräfinnen hier im Clamschen Garten auf schattigen Kieswegen lustwandelt. Aber später wurde der gräfliche Park an einen bürgerlichen Gastwirt verkauft, und der baute in der Mitte des Gartens ein Gasthaus mit einem Tanzsaal. Nun aber wird hier auch nicht mehr getanzt. Seit heuer. Noch im vorigen Jahr war die „Klamovka“ am Sonntag nachmittag ein Wallfahrtsort der Dienstmädchen, der Burschen und Mädchen aus dem Volke, und oben im Saale wurden bis spät in den Abend Quadrillen und Walzer getanzt, besonders schlürfend der Sechsschrittwalzer, der im Volksmund „Na šest“ heißt, dessen charakteristisches Merkzeichen die langgezogenen, langsamen Schritte bei der Linksdrehung sind, und bei dem man in erheuchelter oder echter Verzückung die Augen zu schließen hat. In den Pausen aber gingen die Liebespaare, sich umschlungen haltend, hinunter in den Garten, in dem die hohen Christusakazien, die duftenden Syringensträucher, die schattigen Kastanienbäume, die silberglänzenden Rotbuchen, die dichten Ahornsträucher und die verzweigten Hagedornbüsche in Blüte standen. Wenn auch die Blütenpracht von den Liebespaaren wohl kaum eines Blickes gewürdigt worden ist — der Einfluß des Milieus muß doch im Unterbewußtsein seinen Nachhall geweckt haben, dem Frühling der Herzen muß es doch inmitten des Frühlings der Natur am wohlsten gewesen sein. Sonst wären die jungen Leute doch in nähere Sonntagstanzlokale gezogen, wie in das Weinberger Bräuhaus, in das Gasthaus „Na Slovanech“ auf dem Karlsplatz, wo der Wirtsgarten nur aus paar verkrüppelten Bäumen besteht. Doch dort war’s nie so voll wie in der „Klamovka“.