Fräulein Doctor im Irrenhause: Eine Begebenheit aus unserer Zeit
9781465651372
200 pages
Library of Alexandria
Overview
Der Ertrag ist der allgemeinen Poliklinik in Wien gewidmet. An einem trüben, regnerischen Herbstmorgen schritt eine Frau die breite, mit feinem Kiessande bestreute Allee entlang, die zur Irrenanstalt führte. Die Frau war groß und schlank und entwickelte in jeder Bewegung eine unnachahmliche Grazie, eine vollendete Symmetrie der Form. Ihr Haar war von einem hellen Braun, auf dem ein Goldglanz lagerte, nicht anders als ruhe der volle Sonnenschein auf den reichen, wogenden Locken; das Auge, lang geformt, dunkel und feurig, war von bogenförmig feingezeichneten Brauen überwölbt und von langen schwarzen Wimpern verschleiert; durch die lilienweiße Haut schimmerte die Rose auf den Wangen; der feingeschnittene Mund, die kleinen Perlenzähne und das anmuthreiche Grübchen am Kinn vervollständigten das harmonische Ganze. Diese Frauengestalt war wunderbar, entzückend schön. Ja, Zerline war schön wie die Fee eines Zaubermärchens und ebenso mächtig wie diese. Ein Blick ihres Glutauges, ein Wort von ihren duftigen Lippen vermochten es eben so leicht wie der Zauberstab einer Fee Schaaren von dienstbaren Geistern um sie zu versammeln. Ihre Alleinherrschaft in der galanten Welt war anerkannt, unbestritten, unumschränkt. Zu den demüthigen Zugthieren ihres Siegeswagens zählten die stolzesten Löwen des Tages. Zerline war eine gefeierte Schauspielerin, das brillanteste Decorationsstück eines Musentempels in der Provinz. Mißgünstige Rivalinnen behaupteten wohl, Zerline sei nur auf der Bühne des Lebens eine treffliche Komödiantin, im Tempel der Kunst nur eine jämmerliche Stümperin. Böse Zungen erzählten, daß sie durch mächtige Gönner sich ihren Platz auf den Brettern errungen und nur durch ihre körperlichen Reize und durch ihren Toilettenreichthum das Publicum blende. Alles dies vermochte aber die Triumphe Zerlinens nicht zu vermindern. Die Menge huldigt dem Erfolge, ohne sich zu kümmern, auf welche Weise dieser errungen wird. Zerline war also eine Zugkraft ersten Ranges und wurde als solche vom Leiter des Theaters mit einer bei diesem Herrn nicht gewöhnlichen Liebenswürdigkeit behandelt. Der Director war ein kluger Mann. Er wußte, daß eine blendende Staffage eine viel mächtigere Zugkraft sei als ein echtes Talent, das sich zur reinen Höhe der wahren Kunst emporgeschwungen. »Das Gute wird gedacht, das Schöne aber betrachtet,« philosophirte er. »Mein Publicum ist nicht dem Begriffe, sondern der Anschauung zugänglich, und die Kunst eines praktischen Directors besteht ja nur darin, dem Publicum den gewünschten Genuß zu verschaffen und ausverkaufte Häuser zu erzielen.« Zerline feierte Triumphe, wie die wirklichen Künstlerinnen solche nicht oft und nicht leicht erringen. Milde Kritiker räucherten sie in dicke Weihrauchwolken ein und nannten sie einen leuchtenden Stern am Firmamente der tragischen Kunst. Dies, sollte man meinen, müßte sie doch befriedigt haben. Dem war aber nicht so. Mit dem Erfolge wuchs ihr Ehrgeiz. Bald verlor die Huldigung der gutmüthigen Provinzler für Zerline jeglichen Reiz. Der Wirkungskreis in der Provinz erschien ihr eng und armselig und nur die Bühne in der Residenz ihrer würdig. In der Residenz als Tragödin gefeiert und umworben zu werden, dies ward fortan der süßeste Traum ihres Lebens. Um dies zu erreichen, war ja nur vonnöthen ein Gastspiel zu eröffnen. Daß sie mit ihrem ersten Auftreten das Publicum im Sturm erobere, dessen war sie sicher, dafür garantirten ihr ja der stürmische Beifall genügsamer Claqueurs und die Verzückung ihrer Gönner. Wollen und Können war für die gefeierte Zerline gleichbedeutend.