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Der Einzige auf der weiten Welt: Ein Menschenleben

9781465650795
313 pages
Library of Alexandria
Overview
Winterstille im weiten Wald. Der Schnee leuchtet bis in die Gründe hinein. Reinweiß ist er und er liegt so gleichmäßig hoch, daß nirgends ein blauer Schatten seine Oberfläche streift. Auch die Spur meines Schlittens ist verweht und ausgeglichen, und ich fühle mich wieder als der, der ich im Innersten meines Herzens bin: der Einzige auf der weiten Welt. Und wie wohl das tut! Nie hätte ich gedacht, daß nach einem Leben, das an den Menschen Schiffbruch gelitten hat, noch so großer Friede werden kann. Ich sage Friede. Und wenn ich dies Wort ausspreche, langsam, andächtig, dann höre ich eine Glocke anschlagen mit tiefem, feierlichem Tone und ihr Klang geht dahin durch den verschneiten Wald und schwebt empor zu den glitzernden Felszacken über dem leuchtenden Firn und erfüllt die riesige blaßblaue Himmelswölbung hinauf, hinein in unermessene Ewigkeitsfernen. Friede, Friede auf der weiten Welt! Mein Herz geht mit so sanftem Schlag und meine Augen sind so mild und selig, denn was sie sehen, das gehört zu mir, das ist so selbstlose und dabei doch so selbstherrliche Natur, wie ich es selbst bin. Da draußen stehen die Tannen still, regungslos. Auf ihren Ästen und Zweigen liegt es in dichten, schweren Massen. Doch sie ächzen nicht, sie schütteln sich nicht. Sie tragen, was ihnen auferlegt ward, denn sie wissen, es ist Notwendigkeit, Naturgesetz: tragen zu müssen, und es ist schön, mit Würde und edler Gelassenheit zu tragen. Und dort drüben liegt der See. Willig hat er sich die glasgrüne Eisdecke über die blaue Brust breiten lassen und sein Atem geht so leise, daß sich nirgends auch nur um eine Haaresbreite die Decke hebt. Auch er weiß, daß es so sein muß, und ist stolz genug, das Notwendige aus freien Stücken zu wollen. Und darin liegt alle Weisheit und alle Größe, darin liegt die einzige, wahrhaftige Freiheit: sich eins zu fühlen mit dem, was sein muß. Das schafft das Leid aus der Welt und auch die Freude, die ja nur überwundenes Leid ist, aber eben doch Leid. Wer sich aber dem Unabwendlichen fügt, der wird zum Herrn und seine Demut wird zum weltgebietenden Zepter. Ihm ist der Friede Gottes! O armes Menschentum! Wie fern bist du diesem Frieden! Ich aber, ich, an dessen Hand Menschenblut klebt, ich bin dieses Friedens teilhaftig. Durch Kampf und Irrtum und durch das, was ihr Menschen Schuld nennt, bin ich gegangen und ich habe geweint wie ihr, ich habe getobt, ich habe gejauchzt und gejubelt, ich habe verzweifelt: ich bin mit einem Wort ein Mensch gewesen wie ihr, ein Mensch mit denselben Süchten und demselben Hochmut, ja, ich war ein größerer Mensch als ihr oder doch die meisten von euch, denn alles Menschliche war in mir tiefer und stärker und darum mußte ich aus eurer Mitte, darum bin ich der geworden, der ich bin: der Einzige auf der weiten Welt. Die Sonne geht draußen zur Rüste. Meine Schneeeinsamkeit blüht im roten Abendlicht wie ein Rosenhain auf der Märcheninsel Bimini. Die Berggipfel glühen wie Freiheitsfeuer, die Tannen hängen sich purpurne Mäntel um und über die Schneeflächen gleitet es wie ein beglücktes Lächeln, das die Wangen rosig färbt. Und auch über die weißen Blätter vor mir fließt es in rotem Schimmer. Was will es bedeuten? Blut meint ihr, Blut, das ich vergossen? Nein: Morgenrot des Friedens für euch alle, die ihr vielleicht einmal diese Blätter lesen werdet, auf denen ich niederschreiben will, wie ich zu dem geworden, was ich bin.