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Die Mutter: Blätter aus dunklen Tagen

9781465648785
102 pages
Library of Alexandria
Overview
Wie seltsam dies alles war am Tage, der dieser Nacht voraufging! Und wie es mir jetzt, da ich den verfallenden Stimmen nachlausche, als ein gleichgestimmter Klang erscheint! Gell, schneidend, aufrührend! In blanker Frühe die Nachricht vom Ausbruch der Revolution. Tagsüber der schreiende Regensturm in den gekrümmten Gassen der alten Seestadt. Am wundgepeitschten Abend die Aufführung des gewalttätigen Stückes, dem die Menge zum Schluß wie in Besessenheit Beifall kreischte. Und endlich der Rausch der drei Jünglinge neben mir beim Heimweg im wehen Abendnovember! Oft, im schleichenden Gehen der langen, unendlichen Jahre des Krieges hatte ich in Gedanke und Rede dem Wunsche Ausdruck gegeben, sie mögen ein Ende machen, die Soldaten aller Länder. Unpolitischer als ein halbwüchsiger Knabe, hatte ich mit diesem Anruf einer fremden Macht gespielt, wie ein geschlagenes Kind etwa, das, um straffrei zu bleiben, Kaiser zu werden bittet. Nun meiner Bitte Gewährung geschah, stehe ich diesem Zustand genau so verängstet, genau so hilflos gegenüber wie das Kind, dem kaiserliche Gewalt verliehen wäre. Das also ist das Gesicht der Revolution am ersten Tage ihrer Geburt! Elf Mann, deren Namen unerforschbar blieben, hatten in vergangener Nacht die Herrschaft der Handelsstadt an sich genommen, kampflos, mit einer großartigen Selbstverständlichkeit. Die tags zuvor noch Gebieter des Volkes geheißen, waren zu Hunderten hingemäht, wie hohe Halme von einem einzigen Sichelschlag. Durch die nassen windigen Gassen aber brodelten den ganzen Tag die Stürze der Volksmassen, oder sie stauten sich an einem Platze um irgendeinen Redner, dessen Worte am Sturm zerbrachen. Jünglinge mit brennenden Augen und großen Gebärden gaben Freudenschreie in den Tumult. Flieger beschütteten die Menge in knappen Zwischenräumen mit weißen Blättern voll flammender Überschriften. Autos mit brandroten, klatschenden Fahnen trugen in toller Fahrt halbwüchsige Burschen an irgendein geheimnisschwangeres Ziel. Ich aber strich mit schweren Gliedern und mattem Herzschlag an den Häusern hin, die hinter dieser Empörung der Menschen und der Elemente düsterten, und sah junge, blutstrotzende Offiziere erbleichen, weil ihnen lärmende Buben in aufsehenerregender Art die Zeichen ihre Standes abrissen und mit dem Straßenschmutz mengten. Ich sah einen weißhaarigen, hohen Militärsmann, mit Tränen auf den Wangen und gespreizten Fingern um die Vergünstigung betteln, seine Entehrung in einem Hausflur vornehmen zu dürfen ... mit eigenen Händen. »Ich habe sie fast fünfzig Jahre getragen«, stammelte sein verblaßter Mund, während die gekrampften Hände sich zu den Achselklappen und der Kokarde zu heben mühten und sein ganzes blutentleertes Gesicht in Schmach und Schwachheit zuckte. Und – o Wandelbarkeit der menschlichen Empfindungswelt – mein Gefühl, das sich bislang gegen dieses mittelalterliche Bleibsel gerichtet hatte, flog ihnen heute, als den Getretenen, in warmer Wallung zu. Da wandte ich mich von der Stadt ab und von dieser Erhebung des Volkes, die neue Gewaltsamkeit an Stelle der alten setzte, und strebte unter den breiter fallenden gelben Regengüssen meinem Heim entgegen, vorbei an krüppligen Weidenbäumen, die auf schwarze Felder starrten, vorbei an grünlich aufglimmenden, tränenüberstürzten Fenstern, heim zu meiner stillen Arbeitsstube, mit meinen angefangenen Zeichnungen, mit den alten, vielgelesenen Büchern und den wundersamen Schattengebilden einer zerwehten Zeit, die doch die Gegenwart auszuwischen vermochten.