Verflossene Stunden
Novelle
9781465641854
108 pages
Library of Alexandria
Overview
»Ja, mein Kind«, sagte die Mutter eines Tages zu mir, »es wird doch am besten sein, daß Du dem Rathe des Herrn Pfarrers folgst und die Stelle annimmst, von der er mit uns sprach; ich sehe wohl, für eine junge Dame Deines Standes, wenn sie mittellos ist, sind hier nur Demüthigungen zu erwarten.« Und nachdem sie diese Worte rasch und in einem Tone gesprochen, welcher trotz seiner Kälte ihre Gereiztheit merken ließ, schloß meine Mutter ihre Lippen fest und fuhr eifrig zu stricken fort. Ich hatte daher Zeit, über eine geeignete Antwort nachzudenken, denn erstens mußte ich der Mutter klar machen, daß etwas mehr als das bloße Annehmen jener Stelle meinerseits nöthig sei, und dann wünschte ich auch zu erfahren, welche Unhöflichkeit oder Unzartheit der Leute des Städtchens sie um den ihr natürlichen vornehmen Gleichmuth gebracht hatte. In beiden Angelegenheiten mußte ich schonend zu Werke gehen. »Ich denke, liebe Mutter«, sagte ich vorsichtig, »daß ich dann wohl am besten sogleich an jene Mrs. Gray schreibe, um ihr zu sagen –« »Daß Du gesonnen bist, die Stelle einer Erzieherin ihrer Kinder, einer Untergebenen in ihrem Hause anzunehmen, Du, ein Fräulein von Günthershofen!« unterbrach mich meine Mutter mit scharfer Stimme und fuhr bitter fort: »Ach, wenn das Dein Vater wüßte!« – »Um ihr vorerst auseinanderzusetzen, in welchen Fächern ich unterrichten kann«, sagte ich und lenkte ein, da ich meiner Mutter Stirnrunzeln bemerkte: »damit sie weiß, was ich zu unternehmen gedenke und was nicht.« – »Thue das, Kind«, entgegnete Frau von Günthershofen streng, »doch vorerst laß uns Thee trinken.« Ich legte das Tischtuch auf den Tisch, wobei ich Sorge trug, daß die gestopften Stellen desselben unter das Theebret kamen, brachte Tassen, Brod und Butter herbei, und zwar mit einem gewissen wehmüthigen Genießen dieser kleinen Dienste; sah ich doch voraus, daß ich sie nun, da meine Mutter endlich ihre Zustimmung zu meinem Fortgehen gegeben hatte, nicht mehr lange würde zu verrichten haben. Und wem fielen dieselben dann zu? Dem kleinen Dienstmädchen aus einem benachbarten Dorfe, welches wir nach seiner Confirmation ins Haus genommen und welches meine Mutter seiner hastigen, ungeschickten Bewegungen halber kaum um sich dulden konnte. Wenn ich daran dachte, daß die stattliche alte Dame, welche in frühern Jahren über die correcte Bedienung von Lakaien verfügt hatte, nun bald den unbeholfenen Versuchen unseres Lieschen allein anheim gegeben sein sollte, so erfaßte mich ein wahres Entsetzen und der Gedanke an ein Fortgehen von hier erschien mir schrecklich. Aber aufgegeben konnte er nicht werden, das verhinderte die bittere Noth; es ging eben so nicht länger.