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Hans und Suse in der Stadt

9781465636140
313 pages
Library of Alexandria
Overview
Es war noch früh am Morgen, gegen ein halb sieben ungefähr, da waren Hans und Suse, die beiden Doktorskinder, die bei Frau Cimhuber, der Pfarrwitwe, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, schon wach. Voll Unruhe hatten sie ihr Lager verlassen, sich angezogen und saßen nun fix und fertig am Tisch in Susens Zimmer, bereit zur Schule zu gehen. Dabei waren es ganze anderthalb Stunden vor Schulanfang. Aber die beiden hatten nun mal keine Ruh und Rast, seit sie hier in der Stadt weilten, und ihre Aufregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen und Aussehen. Wie Schatten ihrer selbst sahen sie aus. Suse, die kecke, übermütige Suse, die sonst ihren Kopf mit der fürwitzigen Nase so hoch zu tragen pflegte, hielt ihn trübselig gesenkt. Und ihr Bruder Hans sah aus seinen großen, dunklen Augen verängstigt um sich. Die beiden fühlten sich ebenso verlassen und ausgestoßen hier in dieser fremden Stadt, in der sie gerade einen Tag verbracht hatten und in der sie doch eine lange Zeit bleiben sollten, um die höheren Schulen zu besuchen. — Weit weg, an das andere Ende der Welt, schien ihnen ihr Elternhaus, das freundliche Arzthäuschen, gerückt; und dabei war es doch nur eine Tagereise entfernt und lag in den Bergen, deren Umrisse man an hellen Tagen wie eine feine Linie am Horizont wahrnehmen konnte. „Hans,“ sagte das kleine Mädchen plötzlich, „was meinst du, sind Frau Cimhuber und Ursel schon wach?“ „Ich glaub’, mir ist’s, als hätt’ ich jemand auf Pantoffeln gehen hören,“ erwiderte der Bruder... „vielleicht war’s Ursel.“ Suse nickte. Und halb zu Hans gewandt, halb wie im Selbstgespräch fuhr sie fort: „Gräßlich alt ist Ursel schon. Über sechzig Jahre. Und vierzig Jahre ist sie schon bei Frau Cimhuber gewesen. Das ist viel länger als unsere Rosel. Rosel ist gerade neun Jahre bei uns. Das ist einunddreißig Jahre weniger als Ursel.“ „Du Suse,“ fragte Hans mit einem Male, „was hat eigentlich gestern abend Frau Cimhuber über Ursel gesagt, als sie vor uns auf dem Sofa gesessen ist und deine Hand gehalten hat und uns so lange angesehen hat?“ „Das weißt du schon nicht mehr!“ rügte Suse, die so gern dem jüngeren Bruder gegenüber die Überlegene, Belehrende spielte. „Wirklich, das weißt du nicht mehr? — Sie hat gesagt: ihr sollt Ursel stets mit Rücksichtnahme und Respekt begegnen; denn sie ist über vierzig Jahre in meinem Dienst und ist mir eine getreue Beraterin und bewährte Freundin gewesen, eine Stütze meines Hauses in Not und Gefahr. Nicht nur in fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten voller Aufopferung und Liebe und echt christlichen Sinnes. Gehorcht ihr wie mir!“