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Eine Stunde hinter Mitternacht

9781465597458
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Library of Alexandria
Overview
Eine langhin gewölbte, sanfte Welle hob meinen Kahn mit dem gerundeten Bug auf das Gestein. Ein schiffbrüchiger Träumer verliess die Ruderbank und dehnte die Arme dem stummen Lande entgegen. Mein purpurner Mantel war mürbe geworden und warf von den Hüften abwärts weiche demütige Falten. Meine Armeund mein Hals waren von Rudern und Fasten mager geworden, mein Haar war lang gewachsen und bog sich in dichter Fülle in den Nacken. In dem dunkelgrünen, stillen Gewässer der Bucht lag mein Spiegelbild gebreitet, und ich sah, dass auf der langen Fahrt alles an mir anders geworden war, brauner, schlanker und biegsamer. Auf meinen Wangen hatten grausame Stunden Denkmale ihrer Gefahren und Niederlagen und Überwindungen geschaffen. Alle Morgen ohne Sonne, an denen ich mit wunden Gliedern an mein Fahrzeug geklammert hing, alle Stürme, die mir die Abgründe des Meeres zeigten, hatten sich mir in Ecken und Furchen mit tiefer Schrift auf Wangen und Hals geschrieben. Aber meine Augen standen klar in weiten Höhlen, mit wachsamen Kinderblicken. Sie hatten viele Nächte durchwacht und nach den ewigen Sternen gesucht und die farbigen Nächte des Meeres aufmerksam durchdrungen nach aufsteigenden Segeln oder Gestaden. Sie hatten viele Tage lang keinen Staub gesehen und selten nur mit lächelnder Sehnsucht von ferne das Grün vorübergleitender Wälder und den Rauch aus fernen, verborgenen Städten gestreift. Nun lachten sie hell und gross mich aus dem glatten Spiegel an. Und nun tranken sie den lange entbehrten Anblick der weissen Steine, der bräunlichen Erde, der Gräser und Gebüsche. Ich sah die Luft um die Gebüsche wie einen feinen, weisslichen Rand, denn ich war lange der Luft entwöhnt, welche über Erde und Grünem ist. Meine Nüstern sogen mit scheuer Lust den vollen, zärtlichen Duft der Wiese und des nackten Bodens, und mein Fuss trat stark und schonend zugleich auf das köstliche Gut des festen Erdreiches.